Fantastischer Realismus - eine theoretische Betrachtung
Es gibt immer wieder Menschen, die die Behauptung aufstellen, Kunst käme von „Können" und nicht von „Wollen", sonst hieße es ja Wunst". Das ist nicht nur falsch, sondern auch ziemlich dumm. Das Wort „Kunst" kommt von „künstlich". Einfach gesagt bedeutet es, dass ein Mensch etwas geschaffen hat, das so in der Natur nicht vorkommt.
Das Foto eines Apfels ist kein Apfel, sondern ein „fantastisches" Bild. Es besteht nämlich nur aus Papier, Gelatine und Silber. Wenn jemand „realistisch" malt, dann nennt man das absurder weise „abstrakt". Dabei hat er nur Farbe auf Leinwand gemalt, und sein Bild stellt nichts anderes dar. So ist die total abstrakte Malerei die einzig realistische Malerei.
Der fantastische Realismus als Kunststil stammt von der Künstlergruppe der „Wiener Schule des Fantastischen Realismusses. Damals – in den Sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts haben sich in Wien Maler zusammengefunden, die Bilder mit fantastischem Inhalt machten. Wichtige Mitglieder der Gruppe waren Ernst Fuchs, Arik Brauer und Friedensreich Hundertwasser. Neben Andy Warhols Faktory und anderen ins Realistische gehende Strömungen wie Josef Boeys war das die Hauptrichtung der Beat- und Hippy-Ära.
Was aber war so wichtig an diesem Stil, vor allem, wo man solche Bilder in allen Kunstepochen findet?
Bilder von fliegenden Engeln, Teufeln und anderen Ausgeburten der menschlichen Fantasie findet man nämlich in allen Epochen der Kunst. Hier in Europa haben Sie ihren Ursprung hauptsächlich in der katholischen Kirche und deren Mythen. Im 19. Jahrhundert kamen noch deutsche Märchen und Mythen sowie die antike Mythologie als Bildthemen hinzu. Die erste Revolution dagegen war der „Surrealismus", der sich auf die Traumdeutung Sigmund Freuds berief. Erst die Mitglieder der „Wiener Schule" nahmen sich der Befreiung des Fantastischen von jeglicher Kultur an.
Diese Befreiung ist sehr wichtig und für jeden Maler etwas ziemlich normales. Aber für an intellektuelle Inhalte gewöhnte Menschen ist sie angsteinflößend. Betrachten Sie mal die folgenden Tatsachen.
Wir leben in einem politisch zusammenwachsenden Europa, indem die Menschen gerade eine neue Völkerwanderung erleben. Vor allem die hinzugewanderten Moslems teilen sich in zwei religiöse Gruppen: die einen glauben, dass das Bild eines Lebewesens eine Seele hat und in den Himmel kommt, und die anderen glauben das nicht. Die Anschläge am 11. September 2001 haben ihren Ursprung auch in dieser religiösen Vorschrift. Die vielen Bilder in den Medien und der Kunst machen den strengen Sunniten Angst. Wer Bilder macht, schafft Seelen – nach dieser Religion - und ist eben entsprechend mächtig. Auch Saddam Hussein, selbst Sunnit ist, hat mit dem Iran einen Krieg angefangen. Dort leben Schiiten, die Bilder erlauben.
Aus „europäischer" Sicht mag der Glaube, ein Bild hätte eine Seele und käme in den Himmel lächerlich erscheinen, aber Vorsicht! Adolf Hitler hat ja auch eine Kunstideologie propagiert, die „nicht Erwünschtes" ausmerzen wollte. Damals sollten die Künstler „deutsche" Kunst machen. Es sollten zum Beispiel nur Menschen dargestellt werden, die der Rassenideologie der Nazis entsprachen. Andere Bilder wurden als „krankhaft" diffamiert und so mancher Maler erhielt Malverbot oder landete sogar im KZ.
Man muss sich das mal vorstellen: ein Bild ist ja nur ein Produkt der Fantasie des Betrachters. Die Ausrede, es sei ja auch ein Produkt der Fantasie des Künstlers kann man auch nicht gelten lassen, denn es gibt ja auch den rein chemisch-physikalischen Vorgang der Fotografie zur Erzeugung von Bildern. Die Angst vor dem Bild ist also die Angst des Betrachters und ein reines und unrealistisches Fantasieprodukt.
Alle Diktaturen der Neuzeit wollen die Macht der Bilder (die ja in Wirklichkeit nicht existiert) für sich nutzen. Zum einen benützen sie sie für ihre eigene Propaganda zum anderen werden mißliebige Künstler kaltgestellt. Das setzt sich auch in demokratisch organisierten Ländern fort. Hier soll stets die Freiheit der Kunst als Errungenschaft der Demokratie gefeiert werden.
Hier ist es die Idee des perfekt organisierten Staates. Da brauchen die Menschen andere Helden. Zum Beispiel solche, die den Berliner Reichstag in Stoff einpacken, oder solche, die einfach nur einen schwarzen Strich wild aufs Papier machen. Hinter dem ersten steckt vielleicht so was wie der Wunsch, die Regierung nicht mehr sehen zu müssen. Hinter dem anderen steckt der brave Beamte, der bei jedem Strich, den er auf dem Papier macht darüber nachdenkt, ob das den ihm vorgeschriebenen Dienstweg entspricht. Der letztere träumt von der Freiheit des Malers seine Striche so zu machen, wie er will.
Werbung und Fernsehen und Computer sind Bestandteile des Alltags in Deutschland geworden. Man könnte sagen, noch nie hat es in der Geschichte der Menschheit soviel Kunst für die Menschen gegeben wie heute. Nur die entscheidende Entdeckung der Realität über den Unterschied zum Fantastischen ist immer noch eine Angelegenheit der schweigenden Mehrheit. Die von diffusen Ängsten geknechtete Minderheit hat sich eine Kunstwelt geschaffen, die sie für die Realität hält. Für den Beamten sind die Vorschriften jene Realität der er sich bedingungslos bis zum seelischen Tod unterwirft unter Missachtung der eigenen tatsächlichen Wirklichkeit.
Ein kleiner Junge in Braunau am Inn muss ohne Vater aufwachsen. Da ist niemand, der ihm zeigt, wie er in der Welt zu Recht kommt. Er hat auch nie gelernt, wie er sich gegen andere behauptet. Man kann mit ihm machen, was man will. Er wird Meldegänger im ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg schreibt er ein Buch, wie er sich die Welt vorstellt, in der er sich sicher fühlt. Er findet dadurch Freunde, gründet eine Partei und am Ende liegt die halbe Welt in Trümmern weil er sich gleich von einer ganzen Armee gegen seine eingebildeten Feinde verteidigen lassen wollte.
„Die deutschen Jungen sollen zäh sein wie Leder, flink wie die Windhunde und hart wie Kruppstahl!" Man sollte Hitlers Satz ergänzen durch: „damit sie mich beschützen können." Der Mann war eine Sammlung von Ängsten, die damals Mode wurden. Das Psychologenehepaar Mitscherlich hat nach dem Krieg ein Buch veröffentlicht mit dem bezeichnenden Titel: „Über die Unfähigkeit zu trauern."
Fantastische Angst als Mode ist nicht ausgestorben. Im Gegenteil, sie ist eine wichtige Geschäftsgrundlage für Pfarrer, Politiker und die Wirtschaft. Aber sie ist eben nur Fantasie!
So ist es zu erklären, dass sich viele Frauen ihren Busen mit Silikon vergrößern zu lassen. Andere Hungern sich zu Tode weil sie glauben, dass nur superschlanke Frauen auf dieser Welt glücklich sein dürfen. Man kann Kaffee verkaufen mit dem Argument: „dann klappts auch mit dem Nachbarn".
In der Bibel gibt es die Geschichte von Hiob. Die versteht man sehr schnell ohne Hilfe. Wie ist das denn, wenn man erwachsen wird und seine Illusionen verliert? Da hatte man romantische Vorstellungen von der Liebe und dann ist das anders – hoffentlich schön, aber eben anders. Hiob stirbt die Frau. Da hatte man eigene Vorstellungen von der Familie und dann sind die Kinder anders – Hiob verliert seine Kinder. In dieser Geschichte ist einfühlsam beschrieben, wie man sich in so einem Moment der Erkenntnis fühlt: da stirbt eine Illusion.
Die Odyssee ist auch so eine Geschichte. Da sterben die „Helden" der Kindheit und am Ende erkennt der Held, dass er immer noch er selbst ist. Wer es nicht glaubt kann ja mal an seine eigene Kindheit zurückdenken. Was war damals alles ein Abenteuer und was ist daraus geworden? Ein Käfer war ein Wunder und heute? Ein erster Spaziergang ohne Eltern zum Nachbarn war eine Heldentat. Als Erwachsener mit solchen Heldentaten anzugeben wäre Idiotie. Auch die anderen Kinder sind längst erwachsen. Keiner würde mehr zuhören. Hektor und Achill sind im Kampf gefallen – symbolisch.
Wie die beiden Beispiele Hiob und die Odyssee zeigen, braucht man das Fantastische um das Reale leichter zu begreifen.
Die Bedeutung der Fantasie
Wenn ein sich Mensch im Zustand der Resignation befindet, dann hat er nur zwei Möglichkeiten: Fantasie und Hoffnung. Das ist ein Naturgesetz.
Ein weiteres Naturgesetz ist die Tatsache, dass wir keine Antworten auf die Fragen haben, woher wir kommen und wohin wir gehen. Für Menschen ist es einfach ein Wunder. Alle Naturwissenschaften können dieses Wunder der Existenz nicht erklären. Warum geht die Sonne auf? Warum ist das eine lebendig und das andere nicht? Was sind die Sterne wirklich?
Wenn man zum Beispiel Viren unter dem Elektronenmikroskopbetrachtet, kann man nicht wirklich begreifen, dass es sie gibt. Alles was man nämlich sieht, ist ein Bild auf dem Monitor. Inzwischen haben sehr viele Menschen Umgang mit dem Computer und können außerdem verstehen, dass man so ein Bild manipulieren kann. Viren sind zu klein um sie wirklich sehen zu können.
Naturwissenschaften haben die Grenze des Begreifbaren hinter sich gelassen. Sie sind nur Beschreibungen einer Wirklichkeit, die unbegreifbar ist. Die meisten wissenschaftlichen Tatsachen sind auch nur Theorien oder weniger.
Wenn wir die Natur aus menschlicher Sicht beschreiben wollen, so geht das nur über den Umweg der Poesie. Hier beginnt die Bedeutung des Fantastischen Realismusses. Wir haben nämlich Probleme darüber zu reden oder gar zu begreifen. Die Bilder sind eine Art Sprache, die ein Gespräch ermöglicht.
Der Mensch ist das einzige Tier, dem Gestaltung und Dekoration wichtig sind. Er macht es sehr gerne und ist traurig, wenn er es nicht darf. Da wird beim Telefonieren herumgekritzelt. Da werden Möbel umgestellt, Bilder aufgehängt und das Essen auf dem Teller arrangiert. Keiner kann sein Tun wirklich erklären. Es ist wie ein Zwang.
Fantasie muss für den Menschen sehr wichtig sein im Unterschied zu den anderen Tieren, denn archäologische Funde aus der Steinzeit zeigen Spuren von Dekoration. Es macht einen Unterschied, ob jemand einen Krug macht um etwas hinein zu tun oder ob er ein paar Linien in den Ton ritzt, weil er das schön findet. Der Mensch macht das eben offensichtlich schon seit langer Zeit.
Bilder mit fantastischem Inhalt sind vielleicht so etwas wie Notizen eines Menschen, der sich immer noch wundert über das was er so erlebt. Sie sind ein gelungener Versuch zu sagen, dass da etwas sehr sehr großes und unbegreifbares ist.