Contergan oder manchmal war das schon seltsam - ein etwas anderer Lebenslauf

Ich wurde am 11. Oktober 1961 im Mühldorfer Krankenhaus geboren, also ein paar Wochen bevor das Schlafmittel Contergan vom Markt genommen wurde. Man brachte mich sehr bald nach München, meine Mutter fuhr täglich mit dem Zug dort hin und brachte mir meine Milch. Wahrscheinlich war meine Geburt eine Zeit lang das Stadtgespräch in Mühldorf schlechthin.

Mit 1 ½ Jahren hatte ich sehr hohes Fieber und als die Kinderärztin nach mir sah, blieb mein Herz stehen. Während mich mein Vater durch eine Herzmassage wieder ins Leben zurückholte, füllte die Ärztin den Totenschein aus mit den Worten: „Ach, lassen Sie ihn sterben!" Ein Jahr später fuhr ich zum ersten mal mit meiner Mutter nach München ins so genannte Dysmeliezentrum nach München. Da war eine unfreundliche, dickliche schwarz haarige Frau, die meiner Mutter sagte, man würde sich hier um mich kümmern.

Wir fuhren dann täglich dort hin. Eine der ersten Blödheiten dort war folgende. Ich, ein 2 ½ Jahre altes Kind sollte eine Sprossenwand hoch klettern, oben angelangt über das Ding hinüber und dann durch das große Loch ganz oben hindurch wieder nach unten klettern. Nun, erstens war die Sprossenwand für mich noch wahnsinnig hoch und dann hatte ich kurze Arme, wie sollte ich mich da festhalten. Ich wollte also nicht. Da holten sie dann ein Mädchen, dass es mir vormachte. Ich bin trotzdem nicht geklettert. Dann haben sie sich noch abfällig über mich geäußert, dass ich noch nicht selber aufstehen konnte, obwohl sie wussten, dass es mit kurzen Armen länger dauert, bis ein Kind das kann.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich zum ersten mal selber aufgestanden bin. Die Familie hatte eine Ausflug gemacht und ich sollte unter einem Heuhaufen meinen Mittagsschlaf halten. Das war ein erhebender Moment für mich, auf eigenen Beinen zu stehen. Manchmal, wenn ich das Lied „Here comes the sun" von den Beatles höre, denken ich an diesen schönen Moment. Ich liebe das Kind, das ich mal war!

Diese Leute in dem Dysmeliezentrum ließen nichts unversucht, mir und meiner Familie zu erzählen, wie schwach und dumm ich doch sei. Da sollte ich mir tatsächlich mit meinen kurzen Armen die Socken anzuziehen lernen, obwohl ich das mit den Füßen ohne Probleme konnte. Bei einem obskuren Intelligenztest sollte ich zu langsam gewesen sein und beim Musizieren bekam ich nur den Triangel.

Nun, ich war – allerdings Jahre - später bei einem Fußballverein Außenverteidiger und konnte den Ball ohne Anlauf lässig von Anstoßpunkt so ins Tor schießen, dass er dort mit einiger Gewalt einschlug. Ein echter Intelligenztest vor meiner Einschulung erbrachte ein so gutes Ergebnis, dass meine zweitälteste Schwester neidisch war. In meiner Pubertät bin ich ein paar mal auf der Bühne gesessen und habe mal Bongos und einmal Schlagzeug gespielt. Ach ja, vor ein paar Jahren traf ich eine der Betreuerinnen aus dem Dysmeliezentrum von damals auf der Jahresversammlung des Bayerischen Conterganvereines. Ich hatte solche Mordgedanken, dass ich den Raum fluchtartig verließ. Ich hätte sie sonst allen Ernstes erschlagen. Seither war ich nie wieder auf einer solchen Versammlung. Ich kann es nicht leiden, wenn man solche Arschlöcher (das Wort ist noch eine Untertreibung) wie diese Frau als Wohltäter hinstellt.

Dann müssen Sie sich mal vorstellen, wie das damals für meine Eltern und meine Geschwister gewesen sein muss. Da wurden den Mitgliedern des Elternvereins in Rundbriefen erzählt, die Kinder seien so schwach, dass sie spätestens mit dem Erreichen der Pubertät sterben würden. Können sie sich diese Angst und dieses Gefühl der Verlorenheit vorstellen? Wenn ich Sie in einem anderen Teil meiner Aufsätze über Contergan aufrufe, dass Sie, falls Sie mal nach Vietnam in den Urlaub fahren, die Opfer von Agent Orange suchen und sie und deren Eltern mal in den Arm nehmen, dann weis ich warum. Wenn man ein behindertes Kind oder Geschwisterchen hat, braucht man den Trost und die Liebe seiner Mitmenschen.

Als ich in die Schule kommen sollte, ging mein verunsicherter Vater mit mir zu einer Lehrerin und fragte, ob mich die Mühldorfer Grundschule überhaupt aufnehmen würde. Er traf ausgerechnet auf „Fräulein Strebel", die ich später nicht mochte. Aber ausgerechnet sie sagte damals, dass das gar kein Problem sei. Nur mein späterer Lehrer machte mir den Übertritt aufs Gymnasium schwer. Er sagte mir damals ins Gesicht, dass einer wie ich keine höhere Schule brauche.

Als ich in der ersten Klasse war, ging mein Vater mit mir in ein Mühldorfer Möbelhaus. Die Besitzerin wollte ihn sprechen. Man lies mich allein. Als er zurück kam, war er irgendwie enttäuscht und verängstigt. Später erzählte er mir, was geschehen war. Jene älter Dame hatte keine Erben und wollte mir ein Haus vererben. Den Rest des Vermögens sollte ein Heim für geistig Behinderte und der Elternverein der Contergangeschädigten in Bayern bekommen. Es hätten aber der damals zukünftige Bürgermeister und der damals zukünftige Landrat so lange auf die alte Dame eingeredet, bis sie das Geld der Stadt vererbte. Das Mühldorfer Hallenbad wurde davon gebaut, damit die Nachbarstadt Waldkraiburg nicht besser dastand als die Kreisstadt Mühldorf.

Wie ich meine Schulzeit verbracht habe und anderes, können sie auf einem anderen Teil dieser Homepage nachlesen. Da steht zwar nichts über Contergan, aber ich lebe ja mein Leben so gut es geht jenseits dessen.

Ich erzähle ihnen stattdessen noch etwas über die so genannten „Folgeschäden" des Contergans.

Mit dem geplatzten Erbe hat es seine Besonderheit. Es zeigt einen typischen Umgang mit den „Contergangeschädigten". Sie brauchen nämlich besonders viel Platz, denen man ihnen nicht gönnt. Einige konnten sich mit der Hilfe der angesparten Rente und ihren Eltern eine Wohnung kaufen, oder besser gesagt, sie mussten sich eine kaufen, denn die Behörden sehen den Bedarf bis heute nicht.

Meine erste vernünftige Wohnung war 38 qm groß und hatte Ölöfen. Damals begannen meine Schmerzen. Zuerst bekam ich eine Trigeminusneuralgie. Das heißt, nach über 20 Jahren weiß ich, dass das von der Halswirbelsäule ausging. Dann bekam ich Rückenschmerzen. Ich konnte zwar dann in eine größere Wohnung umziehen. Die hatte aber auch nur 54 qm und Ölöfen. Die Baugenossenschaft half mir dann, indem das ganze Haus mit einer Zentralheizung ausgestattet wurde.

Bis heute wird mir wegen meiner kurzen Arme von Amts wegen nur ein Zimmer mehr zugesprochen. Das ist aber zu wenig. Ich kann mir die Wohnung nicht so einrichten, dass ich dort selbstständig leben kann. Ich brauche zwei Tische, wo andere nur einen brauchen. Ich brauche zwei Schränke wo andere nur einen brauchen und eine große Wohnküche, die ich für mich herrichten kann. Ich habe schon eine Bandscheibe verloren!

Ich werde älter und damit auch unbeweglicher. Ich kann mich nicht mehr verbiegen, wenn ich etwas greifen will. Wenn in diesen Tagen wieder eine höhere Rente gefordert wird, dann hat das nichts mehr mit dem Conterganskandal und Gerechtigkeit zu tun, sondern schlicht mit neuen Behinderungen. Es gibt zwar das Pflegegeld von der Krankenkasse, aber das ist nie erhöht worden. Ich bin nicht der einzige, auf den eine Kostenlawine zukommt. Die Änderungen bei der Krankenversicherung machen sich auch langsam bemerkbar. Ich werde bald ein Gebiss brauchen. Wer anderes als ich wird die Mehrkosten tragen, wenn ich eine Sonderanfertigung brauche, damit ich die dritten Zähne selber raus nehmen kann?

Ich war durch die Schmerzen schon so hilflos, dass ich freiwillig in ein Heim gehen wollte. Wissen Sie, was ich damals zu hören bekam: „Sie als Contergangeschädigter, Sie sind ja soo selbstständig"! Das war so ähnlich wie damals nach der Bandscheibenoperation. Andere werden danach zur Kur geschickt und ich nach Hause, weil sich das ja nicht lohnt.

 

Zwei Gedanken zum Schluss

Stellen Sie sich zwei Menschen vor, die beide gerne Schach spielen. Einer davon ist behindert. Welche Möglichkeiten gibt es? Nun, der eine könnte sich sagen: „Ich bin arm dran, der andere ist behindert." Er kann aber auch sagen: „Wie schön, ich habe jemand zum Schachspielen gefunden!"

Wer nicht genau hinschaut, macht sich die Welt kleiner. Es gibt keine „Behinderten", sondern Menschen ohne Beine, solche, die nicht hören und so weiter. Andrea Boticelli ist blind und singt, Isaac Perlmann kommt im Rollstuhl auf die Bühne. Er ist einer der besten Geiger der Welt und Steven Hawkin hat das Universum mal anders erklärt. Wer nur die Hälfte der Menschen sieht, versäumt viele Wunder.