Contergan – die hilflosen Helfer
„Schicksal heißt, dass ich nicht weiter weiß", so der holländische Liedermacher Herman van Veen in einem seiner Programme.
Als ich für den evangelischen Pressedienst Bayern und das angeschlossene Sonntagsblatt arbeitete, war ein Redakteur erschüttert und verwirrt. In einem Heim war eine Mitarbeiterin wegen Drogensucht entlassen worden. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass jemand, der einen sozialen Beruf hat, so hilflos sein kann und Drogen nimmt.
Vor ein paar Jahren fiel ein Chirurg auf, weil er nach der Operation mit dem Skalpell seinen Namen in den Bauch seiner gerade operierten Patientin ritzte. Keinem seiner Kollegen war aufgefallen, dass der Chirurg an einer Psychose erkrankt war und gerade einen Krankheitsschub erlebte. Manchmal wird auch in den Medien berichtet, dass wieder jemand in einem Heim oder Krankenhaus von einem Mitarbeiter getötet wurde.
Immer, wenn ich früher in einem Heim jemand fotografieren sollte, fragte ich nach „Supervision". Manchmal gab es das dort, aber ich bekam immer wieder den Satz zu hören: „Ich selbst gehe da nicht hin." Im Münchner Sozialamt gibt es zwar Supervision, aber die wird von Sozialpädagogen durchgeführt, obwohl man dafür Psychologie studiert und danach eine therapeutische Ausbildung gemacht haben sollte. Man muss erkennen können, dass jemand gerade in Not ist.
Die Contergankinder und deren Eltern wurden damals auch von Hilfsangeboten solch hilfloser Helfer überhäuft. So mussten sie viel Unsinn hören. Stellen Sie sich mal die damalige Situation vor: die Eltern und Geschwister waren geschockt. Manche glaubten, dass sie mit einem „behinderten" Kind von nun an Ausgestoßene wären. Die Kinder wurden also von den Helfern darauf trainiert, ihre Behinderung zu verbergen. Es gab sogar die Idee, künstliche Arme für die Straße zu bauen, damit man die kurzen Arme nicht sieht. Und mein Vater hat mir unter Tränen erzählt, wie die Kinderärztin, als ich mit 1 ½ Jahren einen Herzstillstand hatte, zu ihm sagte: „Ach, lassen Sie ihn doch sterben".
Ich weiß noch, wie nach einigen Jahren Dysmeliezentrum die Helfer dort sagten, es täte ihnen Leid, aber sie könnten den Kindern nicht helfen. Aber vorher haben sie die Kinder jahrelang gequält und gedemütigt. Sie haben den Eltern dumme Ratschläge gegeben und sie mit falschen Diagnosen und Zukunftsprognosen geängstigt.
Ich will mal ein trauriges Beispiel dafür geben. Als ich gerade lesen gelernt hatte (8 Wochen nach der Einschulung konnte ich Lesen und Schreiben), las ich in der Zeitschrift „Das behinderte Kind", das die Eltern zugeschickt bekamen, dass die Contergankinder so schwach wären, dass sie spätestens mit Erreichen der Pubertät sterben würden. Als ich dann so alt war, stand in einem Rundbrief des Conterganvereines, dass die Contergankinder mit 16 sterben würden. Als ich 16 war, stand in einem Rundschreiben, dass die Contergankinder höchstens 20 Jahre alt werden würden, und dass sie steril oder impotent seien. Wenn sie doch Kinder zeugen könnten, so wären deren Kinder ebenfalls verkrüppelt.
Das hat mir meine Pubertät teilweise versalzen!
Es war alles erstunken und erlogen. Ich werde am 11. Oktober diesen Jahres 46 Jahre alt. Ob ich Kinder habe, weiß ich nicht so genau, es gab da mal eine entsprechende Affaire, aber die Kinder, die manche Contergangeschädigte zum Jahrestreffen mitbringen, sind ganz normal.
Ich hätte ganz gerne meinem Vater gezeigt, dass ich, sein Sohn irgendwie in Ordnung bin, als er noch lebte. Aber ich hatte einfach Angst. Ich wusste nicht, dass das alles falsch war. Ich habe damals, als ich so 14 war, erlebt, wie sich mein Vater bei mir dafür entschuldigt hat, dass ich kurze Arme habe. Er erzählte mir unter Tränen, dass er damals meiner Mutter heimlich Contergan auf Anweisung des Arztes unters Essen gemischt hatte.
Ich hätte damals ein Kind zeugen sollen. Dann hätte er gesehen, dass nicht so viel passiert war, wie er glaubte. Das hätte ihn vielleicht getröstet. Aber ich hatte Angst davor, denn ich glaubte, dass mein Kind behindert sein könnte.
Wenn Sie also in einem sozialen Beruf arbeiten, dann lernen Sie sich selbst zu lieben und zu achten, denn wenn es Ihnen gut geht, machen Sie keinen Blödsinn im Umgang mit den Menschen, denen Sie helfen. Werden Sie Erwachsen und nehmen Sie Ihr Leben selbst in die Hand, denn, wie heißt es so schön in einem Märchen: „Etwas besseres als den Tod findest du immer".
Anmerkung: Sie finden im Buchhandel eine ganze Reihe von Büchern zum Thema Helfen von dem Münchner Psychoanalytiker Dr. Wolfgang Schmidbauer. Das bekannteste hat den Titel: „Die hilflosen Helfer".